An der Schwelle zum Wahnsinn
Reichsquartiermeister Wilhelm Groener spricht sich innerhalb der Heeresleitung für die Annahme des Friedensvertrages aus. Seine Gründe erläutert Groener in einem Telegramm an alle Offiziere und warnt vor den drastischen Konsequenzen bei einer Wiederaufnahme des Kampfes. Innerhalb des Heeres gab es Überlegungen gegen einen möglichen Einmarsch vom Westen her eine Verteidigungslinie an der Elbe - oder gar an der Oder - aufzubauen und das übrige Deutschland kampflos preiszugeben. Laut Groener wäre ein solcher Plan militärischer "Wahnsinn".
Volltext:
Ich habe eine große Verantwortung mit meinem Rat an den Reichspräsidenten [den Friedensvertrag anzunehmen, Anm.] auf mich genommen, die ich zu tragen wissen werde. Wie die weitere Entwicklung gehen wird, ist unbestimmt.
Es können sowohl Unruhen in Berlin wie Militärrevolten ausbrechen, auch der Kampf im Osten ist möglich.
Wir müssen zwei Fälle unterscheiden:
- Bricht der Kampf im Osten aus trotz Unterzeichnung des Friedens, steht es dahin, wie sich die Entente verhalten wird. Der Einmarsch im Westen ist auch dann möglich, doch ist es fraglich, ob dieser Einmarsch die gleiche Bereitwilligkeit bei den Ententetruppen finden wird, wenn diesen die Friedensbereitschaft unserer Regierung bekannt wird. Fraglich ist auch, ob in diesem Falle Engländer und Amerikaner mitmarschieren werden.
- Es wurde befürchtet, daß im Innern Unruhen und Aufstände revolutionärer und bolschewistischer Natur ausbrechen werden. Ich glaube nicht daran, auf jeden Fall nicht an Aufstände von erheblichen Umfange, um so weniger, als die Unabhängigen sich an dieser Erklärung der Nationalversammlung von heute beteiligt haben.
Die nächste Zukunft liegt dunkel vor uns. Wann die Stunde kommen wird, in der sich das deutsche Volk aus seiner nationalen Verlumpung empor rafft, um wieder einmütig zusammenzustehen und einzutreten in den Kampf nach außen für Ehre und Würde, für die zukünftigen Geschlechter, steht noch dahin Ich glaube nicht, daß dies in absehbarer Zeit der Fall sein wird.
In der [Kabinetts-]Besprechung am 19. Juni habe ich mich bereits erklärt, den Kampf wiederaufzunehmen, wenn der Kriegsminister in der Lage wäre, mir hierzu 1.000.000 Soldaten zur Verfügung zu stellen. Der Kriegsminister hat jedoch dies für unmöglich erklärt, auch darauf hingewiesen, daß die Verpflegung solcher Massen größte Schwierigkeiten bereiten würden und deshalb auch von der Zusammenziehung größerer Massen hinter der Elbe abgesehen werden müsse.
Angesichts dieser Lage und der Unmöglichkeit, unsere Volkskraft zu ernstlichem Kampf aufzurufen, erachte ich alle schönen Reden für Torheit, die Wiederaufnahme des Kampfes für Wahnsinn. Ein solcher Beschluß würde nicht nur erhebliche Blutverluste, die Zerstörung weiter blühender Gebiete und Industriezentren, langjährige feindliche Besetzung wichtiger Gebiete für unser Wirtschaftsleben nach sich ziehen, sondern meiner festen Überzeugung nach einen restlosen Vernichtungskrieg Frankreichs gegen Deutschland zur Folge haben.
Dies, meine Herren, ist meine Auffassung, die Beurteilung überlasse ich Ihnen.
Quelle:
Ursachen und Folgen, Bd. 3, S. 530 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Groener#/media/File:Bundesarchiv_Bild_102-01049,_Wilhelm_Groener.jpg