Schwere Anschuldigungen gegen die Regierungstruppen
Der Vorwärts berichtet nach dem Ende der Märzkämpfe über Greueltaten der Regierungstruppen. Zahlreiche Augenzeugen und insbesondere die Freiheit hatten zuvor von willkürlichen und unrechtmäßigen Erschießung von Unbewaffneten berichtet. Der Vorwärts fordert demgegenüber ein entschlossenes Vorgehen gegen etwaige Straftaten von Regierungstruppen und eine Reform der Freikorps, die ein "tadelloses Instrument des Volkes" hätten sein sollen. Insgesamt wurden bei den Berliner Märzkämpfen mehr als 1.000 Personen getötet.
Volltext:
Uns liegt eine Reihe von Zeugenaussagen vor, nach denen während des letzten Aufstandes willkürliche Erschießungen Unschuldiger von Seiten der Regierungstruppen vorgenommen sein sollen.
Es handelt sich zunächst um die Erschießung von Angehörigen der ehemaligen Volksmarinedivision am 11. März in der Französischen Straße 32. Nach offiziellen Berichten sollen sich diese Leute allesamt (25 bis 35) ihrer Gefangennahme mit der Waffe in der Hand widersetzt haben. Von anderer Seite wird das entschieden bestritten. Es sollen auch vollkommen harmlose Leute diesem summarischen Verfahren zum Opfer gefallen sein. Unter den Erschossenen befand sich z.B. auch ein gewisser Rösner, Fidieinstr. 13, der nach Aussage seiner Ehefrau seinen durch Granatschuß schwer verwundeten Arm noch in der Binde trug und gar nicht fähig war, Waffen zu tragen. Die Leiche dieses Mannes soll nach Aussage der Frau noch beraubt worden sein.
Der Depotführer des Depot 11 bekundet, daß er beschimpft und geschlagen wurde, als er sich um die Freilassung der Inhaftierten bemühte.
Am 7. März, vormittags zwischen 10 und 11 Uhr, soll nach den Angaben von fünf Zeugen der Soldat der Republikanischen Soldatenwehr, Paul Riga, auf Befehl eines Offiziers erschossen worden sein. Die Zeugen versichern, der Erschossene habe nicht das geringste begangen, was seine Erschießung rechtfertigte.
Von verschiedenen Seiten wird uns gemeldet, daß Leute aus keinem anderen Grunde verhaftet, beschimpft und mit dem Erschießen bedroht worden seien, als weil sie eine rote Kokarde an ihrer Mütze trugen.
Alle einzelnen Fälle können nur durch eine gründliche Untersuchung geklärt werden, der die Bestrafung der als schuldig erkannten folgen muß. Zusammenfassend aber kann man wohl sagen, daß nach allen bisherigen Erfahrungen eine gründliche Reform der Freiwilligentruppen nicht zu umgehen sein wird. Es muß erreicht werden, daß sich diese Truppen auf die Ausführung der ihnen erteilten Befehle beschränken, es muß verhindert werden, daß einzelne ihrer Angehörigen nach eigener Luft und Belieben Krieg führen.
Im Bürgerkrieg wird es sich nie vermeiden lassen, daß Ausschreitungen auf beiden Seiten verübt werden, daß in Leidenschaft und Uebereifer manches geschieht, was sich bei ruhiger Ueberlegung nicht rechtfertigen läßt. Aber Aufgabe der Regierungstruppen und ihrer Führung muß es sein, die Quellen dieses Uebels zu verstopfen. Man hat bisher nicht den Eindruck, daß in dieser Beziehung mit der nötigen Tatkraft vorgegangen wird.
Die Regierungstruppen müssen sich so verhalten, daß sie von der Bevölkerung als ihre Freunde und Helfer, nicht aber als ihre Feinde betrachtet werden. Wir verkennen keinen Augenblick das Verdienst, das sie sich als Ganzes um Berlin und Deutschland erworben haben – welche Zustände hätten wir wohl heute ohne sie! Aber gerade damit sie ihre Funktion restlos erfüllen können, müssen sie ein tadelloses Instrument der vom Volk eingesetzten Regierung dienen, sie dürfen weder Politik auf eigene Faust treiben noch auf eigene Faust nach selbst erfundenen Gesetzen Krieg führen.
Hoffentlich liegt jetzt der letzte Bürgerkrieg hinter uns. Aber auf alle Fälle müssen die Regierungstruppen für ihre Aufgaben geschult, ungeeignete Elemente müssen rücksichtslos ausgesondert werden!
Zu den gemeldeten Mitteilungen der „Freiheit“ über Erschießungen von Matrosen der Volksmarinedivision in deren Kaffeeräumen in der Französischen Straße wird uns mitgeteilt, daß Reichspräsident Ebert auf die Anklage der „Freiheit“ hin sofort sich mit dem Reichsminister Noske wegen strengster Untersuchung der Vorgänge in Verbindung gesetzt und daß Minister Noske bereits die Einleitung der erforderlichen gerichtlichen Maßnahmen veranlaßt hat.
Weiter bringt die „Freiheit“ eine Mitteilung, wonach bei der Garde-Kavallerie-Schützendivision wenige Stunden nach dem Noskeschen Erlaß wonach erschossen werden sollte, wer mit Waffen in der Hand kämpfend gegen Regierungstruppen angetroffen wurde, ein zweiter geheimer Befehl der „Offizierskamarilla“ ergangen sei, wonach auch solche Leute sofort erschossen werden sollten, in deren Wohnung Waffen gefunden wurden. Hierzu wird uns von der zuständigen Stelle erklärt, daß ein solcher Befehl der Division nicht bekannt ist und daß sofort ermittelt werden soll, wie das obige Gerücht entstehen konnte.
Quelle:
Der Vorwärts vom 17. März 1919, 36:140 (1919), Abend-Ausgabe, S. 1.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Freikorps#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-R27092,_Berlin,_Gustav_Noske_beim_Freikorps_H%C3%BClsen.jpg