Victor Klemperer: Schwierige Zeiten!
Eva Klemperer befindet sich wieder auf dem Weg der Besserung. Allerding macht jetzt die Arbeit Klemperers am Colleg Sorgen, da zu wenige Studenten an seinen Kursen teilnehmen.
Volltext:
Dienstag Abend nach 7 Uhr 18/März 19.
Es geht Eva ständig besser. Sie ist am allgemeinen Tisch mit, darf Mittags u. Abends ständig auf sein, trägt aber doch noch Verband. Wir haben ihre Genesung con tanto amore gefeiert. Immerhin bin ich noch sehr ans Haus gefesselt, mache in Eile meine Vorlesungen zurecht u. lese im Übrigen vor. (Daudet). Sonntag gönnte ich mir ein erstes Kapitel in Korff's Voltaire in Deutschland. Wenn Eva erst wieder ganz in Gang ist, d. h. in der Akademie ihren Studien nachgeht, werde ich mich sehr aufs Arbeiten neben dem Colleg stürzen: Corneillestudie, Voltairerecension, die sich mehrfach in ähnlicher Richtung bewegen wird, vielleicht ein Capitel: Corneille u. Lessing. Vorderhand geht das nicht, ich bekomme nur eben gerade meine Collegien zusammen. -
Ich bin in ständiger Sorge um meinen französischen Kurs: es kommen nur 4-5 Leute hin u. die kleinen Curse löst man auf; so mußte Lerchs deutscher daran glauben. Neulich, bei einer Umfrage, legte ich eine ältere Bestandsaufnahme zu Grunde u. gab acht Hörer an, die ich längst nicht mehr habe. Heute war ich bei Rehm, dem Organisator der ganzen Sache, in seinem philologischen Seminar u. bat ihn, mir zum Sommer einen franz. Untercurs zu verschaffen. Nur die U-Curse, meine deutschen also, reichen bis Juli; die anderen schließen Ostern. Er will sehen, es einzurichten. Lerch hat ihn um Gleiches gebeten; man muß zu diesem Zweck ein paar Mittelschullehrer abwimmeln. Hierbei sprachen wir auch von den eingehenden Cursen. Er sagte, die Regierung wolle nicht allzuviel ausgeben, Curse unter 5, vielleicht unter 6 Leuten würden cassiert. Ich log: ich hätte im Durchschnitt im franz. O-Curs 8 Hörer, es wechsle natürlich, fluctuiere. Kommt später etwas heraus, so sind es eben nach u. nach weniger Leute geworden. Und ewig dauert ja der Jammer nicht mehr. Bis zum 12. April. -
Gestern Abend Lerch u. Rabinowitsch bei uns. Er immer mißvergnügt, immer von der Forderung des »Existenzminimums« erfüllt. Später kam zum Verbandwechsel Dr. Ritter. Ein religiöses Gespräch mit ihm. Er bringt es fertig, Arzt u. Katholik zu sein. Es hindere ihn nicht im Ärztlichen. Hinter der Zelle stehe Gott. Und warum solle er ihn nicht in der Form verehren, die seinen Eltern u. Vorfahren heilig gewesen? Ob er die Bibel wörtlich glauben müsse? Nein -- aber das Wunder, die unbefleckte Empfängnis, die Auferstehung, alles das: ja! Es falle ihm auch nicht schwer, es habe ihn im Felde getröstet. Er sprach mit leiser Verachtung von den evangelischen Geistlichen, die den Verwundeten nur immer »Lebensmittel« zum Trost brachten. Er begriff nicht, wie ich ganz ohne Kirchlichkeit leben könne. Mir war es peinlich, mich als Protestant geben zu müssen. Sonst aber hätte er mich gar nicht verstanden.
Heute Abend will ich mit Lerch für eine Weile zu Voßler; mein erster Ausgang seit Wochen.
Ein unangenehm jüdisch intimer Brief von Block, dem Kameraden aus Wilna. Wie ferne! – Ein freundlicher Brief von Frau Harms, bestätigend, daß alles veraltet, was von mir durch den Streik liegen geblieben. –
Quelle:
Nowojski, Walter (Hrsg.), Victor Klemperer. Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918 - 1924, Berlin 1966, S. 84 f.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer#/media/File:Bundesarchiv_Bild_183-26707-0001,_Victor_Klemperer.jpg