"Gender Pay Gap" vor hundert Jahren
Der Arbeitsmarkt kommt zwar langsam in Bewegung, von einer wirklich stabilen Situation kann einige Monate nach Kriegsende und Revolution nicht die Rede sein. Zwar sinkt die Zahl von Arbeitssuchenden in einigen Industriezweigen leicht. Mit mehr als einer Millionen gemeldeter Arbeitsloser ist die Situation aber weiterhin angespannt. Gerade Frauen, die während des Krieges massenhaft in der Industrie arbeiteten, verlieren nun ihre Jobs an die zurückgekehrten Kriegsteilnehmer und haben wenig Chancen auf dem Arbeitsmarkt.
Volltext:
Die Lage des deutschen Arbeitsmarkts.
Das vom Statistischen Reichsamte herausgegebene Reichs-Arbeitsblatt berichtet über den Arbeitsmarkt im März 1919 in seinem Aprilheft wie folgt: Die Hauptindustriezweige zeigen das gleiche ungünstige Bild wie im Vormonat, wenn auch vereinzelt eine leichte Besserung des Geschäftsganges eingetreten ist. Neben dem Nahrungs- und Genußmittel- sowie dem Baugewerbe befindet sich besonders das Spinnstoffgewerbe in einer wenig erfreulichen Lage; Aufträge auf Papiergarn und Papiergespinste sind fast sämtlich wieder rückgängig gemacht worden, so daß mit weiteren Arbeitseinstellungen zu rechnen ist.
Nach den Nachweisungen der Krankenkassen standen am 1. April 1919 im Vergleich zum Anfang März insgesamt 241 733 oder 3,3 Proz. mehr Mitglieder in Beschäftigung. An der Steigerung der Anzahl der Mitglieder ist das männliche Geschlecht mit 229 140 oder 5,1 Proz. und das weibliche mit 12 633 oder 0,4 Proz. beteiligt. Wie berets im Märzheft hervorgehoben worden ist, läßt jedoch die Entwicklung der Pflichtmitgliederzahl z. Zt. einen Rückschluß auf die Bewegung des tatsächlichen Beschäftigungsstandes nicht zu, da die Erwerbslosen z. T. unter den Pflichtmitgliedern mitgezählt werden.
Die Statistik der Arbeitsnachweise läßt erkennen, daß im Berichtsmonat die Zahl der Arbeitssuchenden, bezogen auf die Zahl der offenen Stellen, sowohl beim männlichen als auch beim weiblichen Geschlecht nicht unwesentlich abgenommen hat; der Rückgang ist bei den Frauen etwas stärker als bei den Männern hervorgetreten. Im März kamen auf 100 offene Stellen bei den männlichen Personen 168 Arbeitssuchende, beim weiblichen Geschlecht 159 (gegen 205 bzw. 203 im Vormonat). Die Berichte der Zentralauskunftsstellen der Arbeitsnachweise über die Vermittlungstätigkeit im März weisen teilweise eine leichte Besserung des Arbeitsmarktes auf, deren Ausmaß vorläufig aber noch recht gering ist. Die Arbeitslosenziffer ist im März teilweise zurückgegangen; während sie Anfang März 1 076 368 und am 9. März 1 072 994 betrug, war sie am 19. März auf 1 040 747 gefallen; allerdings Ende März wieder auf 1 053854 gestiegen. Die Abnahme ist zum großen Teil auf die Ausführung von Notstandsarbeiten, zum Teil auf Meldungen zum Grenzschutz sowie schließlich auch auf eine leichte Besserung in der Lage einzelner Industriezweige zurückzuführen.
Außer in dem Bergbau haben sich in der Landwirtschaft, besonders nach dem Einsetzen der Frühjahrsbestellung, die Anforderungen von Arbeitskräften stark vermehrt, ohne daß der Nachfrage hätte entsprochen werden können, wenn auch die Vermittlungstätigkeit sich etwas günstiger gestaltete.
Der Arbeitsmarkt für weibliche Arbeitskräfte ist nach wie vor durch das Aufschwellen der Arbeitslosenziffer gekennzeichnet. Die Entlassung von Arbeiterinnen aus den Rüstungsbetrieben sowie die Ablösung der weiblichen Bureaukräfte gehen ständig weiter. Die Unterbringung auf dem Lande scheitert ebenso infolge der früheren hohen Verdienste wie an der Abneigung der Landwirte gegen solche Arbeitskräfte. Auch besteht weiterhin häufig eine Unlust zur Annahme von häuslichen Diensten.
Auf dem Arbeitsmarkt für kaufmännische Angestellte konnte die Zahl der Erwerbslosen durch Einstellung bei Behörden und in privaten Betrieben als Ersatz für weibliche Angestellte etwas verringert werden.
Quelle:
Der Vorwärts vom 05. Mai 1919, 36:227 (1919), Morgen-Ausgabe, S. 3.