MSPD: "Proletarier aller Länder, vereinigt Eure Kraft"
In einem Aufruf wendet sich der Vorstand der deutschen Sozialdemokratie an die Sozialisten aller Länder. Gemeinsam solle man gegen die Ergebnisse des Versailler Vertrags vorgehen, der eine "ewige Versklavung" der Arbeiter zur Folge hätte. Der Vertrag werde keinen dauerhaften Frieden in alten Konflikten bringen und zusätzlich neue Konflikte auslösen. Trotz dieser schweren Bedenken wird die MSPD den Versailler Vertrag wenige Monate später jedoch mangels Alternativen mittragen.
Volltext:
Der Berliner Entwurf eines Friedensvertrages hat die schlimmsten Erwartungen der Friedensfreunde aller Länder übertroffen. Der Gewaltfriede, der uns nach dem Diktat der Versailler aufgezwungen werden soll, ist die beste Rechtfertigung der Haltung der deutschen Sozialdemokratie zur Landesverteidigung. Wir wußten immer, was dem deutschen Volke drohen würde, wenn die Imperialisten der Entente ihm den Frieden diktieren würden. Deshalb wollten wir mit allen Mitteln verhindern, daß dieser Zustand eintrat. Sozialisten der anderen Länder, versteht Ihr jetzt unsere Haltung?
Die Imperialisten der anderen Länder sind nicht besser als die unseren. Der Siegerfriede, der uns heute aufgezwungen werden soll,
trifft die deutsche Republik mitten ins Herz.
Er soll nach der Absicht der kapitalistischen Regierungen Frankreichs, Englands und Amerikas das Aufblühen eines sozialistischen Deutschlands unmöglich machen und damit zugleich den internationalen Sozialismus treffen.
Wir deutschen Sozialdemokraten sind während des ganzen Krieges für einen Frieden der Versöhnung und der Verständigung der Völker eingetreten, der so beschaffen sein sollte, daß er nicht
Den Keim zu neuen Kriegen
in sich trug. Von den Staatsmännern der Entente wurde während des Krieges so oft in alle Welt posaunt, daß sie nur für Recht und Gerechtigkeit stritten, daß sie gegen den Kaiser und die Junker kämpften, nicht aber gegen das deutsche Volk. Der Versailler Friede aber richtet sich gegen das deutsche Volk! Wenn alle die vorgeschlagenen wirtschaftlichen Knebelungen und finanziellen Vergewaltigungen durchgeführt werden sollte, würden
die deutschen Arbeiter auf ewige Zeit versklavt werden und den Nutzen davon hätten lediglich die Kapitalisten aller Länder.
Das deutsche Volk ist bereit, den Schaden zu ersetzen, der auf Geheiß seiner durch die Novemberrevolution gestürzten Machthaber völkerrechtswidrig angerichtet wurde. Es will für den Wiederaufbau Belgiens und Nordfrankreichs aufkommen. Aber dazu bedarf es geordneter Wirtschaft. Der vorgeschlagene Friede jedoch bedeutet
das Todesurteil
einer geordneten Volkswirtschaft. Seine Bestimmungen sind unerfüllbar und deshalb wird der Versuch, sie im einzelnen durchzuführen, zu ewigen Reibereien führen. Dadurch wird die Quelle des Hasses im Fluß bleiben und das in vierjährigem Kriege gemarterte Europa wird nie mehr zur Ruhe kommen.
Der Versailler Friedensvorschlag ist in jedem einzelnen Kapitel der reine
Hohn auf die vierzehn Punkte Wilsons.
Für das deutsche Volk soll es kein Selbstbestimmungsrecht geben. Reindeutsche Gebiete wie Danzig, der Netzedistrikt und andere, sollen vom Boden der deutschen Republik weggerissen und ihre Bevölkerung soll, ohne im geringsten befragt zu werden, unter das Joch der Fremdherrschaft gezwungen werden. Ebenso unerträglich ist die
Verschleierte Annexion des Saargebiets.
Wahrlich, Bismarck war ein elender Stümper gegen die Gewaltmenschen, welche heute die Zerstückelung Deutschlands betreiben und die uns noch dazu raten, zu einem Völkerbunde Vertrauen zu haben, den sie allein gründeten und den sie weiterhin zur dauernden Niederhaltung des deutschen Volkes beherrschen wollen.
Solche aller Gerechtigkeit hohnsprechenden Friedensbedingungen können keinen Dauerfrieden bringen.
Sie züchten den Haß. Sie würden den Reaktionären die nationalistische Agitation erleichtern und den Sozialisten die Aufklärung der Massen erschweren. Sie würden zu einer ewigen Gefährdung des Friedens werden.
Den Weltfrieden zu erhalten, muß nach Abschluß jener greulichen, mehr als vierjährigen Menschenschlächterei aber die vornehmste Aufgabe der Arbeiter aller Länder sein. Das haben die Sozialisten der kriegsführenden Länder erkannt. In Bern haben sich die Sozialisten der neutralen Länder mit den Sozialisten der Ententeländer und mit den Sozialisten Zentraleuropas auf ein
Gemeinsames Friedensprogramm
geeinigt. Sie haben gegen jede Verfälschung der Wilson`schen Grundsätze protestiert und für die Streitfragen, wie z. B. die des Saargebiets, Danzigs, Lösungen gesucht, die nicht den Keim zu neuen Kriegen enthalten würden.
Die Sozialisten aller Länder haben feierlich anerkannt, daß deutsche Volksteile das Recht haben müssen, bei Deutschland zu bleiben, und daß die Deutschen Oesterreichs das Recht haben, sich mit ihren deutschen Brüdern zu vereinigen. Die Ententeregierungen pfeifen auf solche Versuche, einen wirklichen Dauerfrieden zu sichern und ziehen es vor, sich auf die Gewalt zu verlassen.
Wird die sozialistische Internationale ihre Stimme gegen einen Gewaltfrieden so laut erheben, daß in den siegreichen Ländern die Machthaber von heute auf sie hören müssen?
Wir erwarten es.
Aber es ist die höchste Zeit! Das deutsche Volk soll zugrunde gerichtet werden. Aber es handelt sich schließlich um mehr, um das Schicksal Europas! Nach Abschluß dieser entsetzlichen Welttragödie werden in allen Ländern die Massen unerhörte Leiden auszustehen haben. Wird da ein Volk gänzlich zugrunde gerichtet, so trifft das auch alle anderen Völker schwer. Deshalb
Proletarier aller Länder, vereinigt Eure Kraft, um einen Gewaltfrieden zu verhindern,
der Europa nicht zur Ruhe kommen lassen würde und die sozialistische Bewegung in allen Ländern auf das schwerste schädigen würde.
Berlin, den 9. Mai 1919.
Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Quelle:
Der Vorwärts vom 10. Mai 1919, 36:237 (1919), Morgen-Ausgabe, S. 1.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Versailles#/media/File:Chateau_Versailles_Galerie_des_Glaces.jpg