Thomas Mann: Der Food- & Nature-Blogger
Mann hat einen sehr angenehmen Tag in Feldafing am Starnberger See. Vom Wetter bis zu seiner Arbeit ist alles zu seiner Zufriedenheit. Mann beschreibt ausführlich die Natur, in der er große Zeit verweilt und selbst sein Essen. Fast wie ein Foodblogger. Erst am Abend kippt seine Stimmung.
Volltext:
Donnerstag den 22. V. Feldafing (Nachm. 4 Uhr, im Garten.)
Schon gestern Abend hatte der Ostwind den Himmel völlig abgefegt, es gab glänzenden Sternenhimmel u. heute den reinsten, herrlichsten Tag. Ich hatte mich für die Nacht zu einer feuchten Binde entschlossen, doch bleiben Magen u. Leib auch heute entschieden angegriffen. Stand gegen 8 auf und frühstückte in der Sonne vorm Haus, die bei der herrschenden Frische so innig wohlthat, daß ich mich nur schwer, erst nach der Cigarette, entschloß, zur Arbeit in die kapellenartige Atmosphäre des Hauses zu gehen. Schrieb einen Absatz, es handelt sich um die Leiche des Großvaters. Die Post brachte wieder nichts, das Nachgesandte scheint keine guten Wege zu gehen. - Vor 11 fort und mich in Bewegung u. Sonne rasch erwärmt. Außerordentlicher Tag, dunkelblau-sonnig u. doch so leicht und frisch, daß man sich beim Gehen im blauen Anzug nicht erhitzte. Ging am See entlang nach Tutzing, saß an der Dampferbrücke u. las das Starnberger Lokalblatt, ging dann durch den Ort und etwas landeinwärts, zur sogen. Wald schmied-Schlucht hinauf u. oberhalb des blauen, leicht gekräuselten Sees auf Wald- u. Wiesenwegen hin, dann zur waldigen Landstraße hinunter u. zurück, sodaß um 1 Uhr zu Hause war. Aß an meinem weißen Tischlein-deck-dich in dem geblümten Fauteuil auf der Wiese Schleimsuppe, Spinat u. ein mißlungenes Souflé. Dann Liegestuhl, Flegelj., geschlummert. Habe, dies zu schreiben, Stuhl und Sonne wieder aufgesucht, die im Hut erträglich. – Es ist lange her, daß ich so lange allein war. Ich nannte es heute unterwegs meine Tonio Kröger-Einsamkeit. Zu Anfang regte sie mich auf, aber die Umstände begünstigen sie so sehr, daß ich mich rasch in sie eingelebt habe. Über Einsamkeit und »Weib und Kinder« wäre manches zu sagen, d.i. über ihre Würdigkeit, Ratsamkeit, Zuträglichkeit, ihre inneren Wirkungen. Die entscheidende Erwägung und Sicherheit bleibt mir, daß ich mich meiner Natur nach im Bürgerlichen bergen darf, ohne eigentlich zu verbürgerlichen. Hat man Tiefe, so ist der Unterschied zwischen Einsamkeit u. Nicht-Einsamkeit nicht groß, nur äußerlich. - (Abends) Die Stehle hat mir ein schönes Weißbrot gebacken und zum Thee zwei ausgezeichnete mürbe Semmeln. Nach ihrem Genuß schrieb ich die erste Hälfte eines Briefes an den Frhn. von Gleichen in Berlin über den Bolschewismus und ging dann aus. Den Bahndamm entlang. Die Berge sehr zart und leicht, der Abend rein und kühl. Später durch Wald zum Tutzinger Seeweg hinunter. War um 8 zurück, aß Suppe, gebackene Nudeln u. Spinat und fuhr mit den Flegelj. fort. Langweilte mich einigermaßen bei der Klavierstimmerei Walts. Mir scheint, ich fange an, Lust auf anderes zu bekommen? – Schwellung u. Reizung des Zahnfleisches u. einige Schmerzen.
Quelle:
de Mendelssohn, Peter (Hrsg.), Thomas Mann. Tagebücher 1918-1921, Frankfurt am Main 1979, S. 246 f.