Die Weimarer Republik – Deutschlands erste Demokratie

DE | EN

Kessler: "Morgen beginnt die Revolution! Oder doch nicht?"

Harry Graf Kessler kommentiert die "lächerliche" Proklamation des Kaisers. Er sieht mit gemischten Gefühlen in die Zukunft und reagiert unentschlossen auf durch Berlin ziehende Gerüchte über eine bald beginnende Revolution. Sein Eindruck: Noch ist alles ruhig.

Volltext:

3 November 1918. Sonntag. Berlin,

Die Proklamation des Kaisers an den Kanzler vom 28ten Okt ist heute Morgen veröffentlicht worden. Er bekennt sich darin ohne Einschränkung zur Demokratisierung u. Parlamentarisierung; tritt den letzten Beschlüssen der Volksvertretung bei „in dem festen Willen, was an mir liegt, an ihrer vollen Auswirkung mitzuarbeiten, überzeugt, dass ich damit dem Wohle des deutschen Volkes diene. Das Kaiseramt ist Dienst am Volke.“ Nach den früheren flammenden Worten: Regis voluntas suprema lex esto u.s.w. wirkt diese plötzliche Bekehrung würdelos und lächerlich. Wer soll einem solchen Manne überhaupt noch glauben? Ein mit Entlassung bedrohter Lakai würde sich nicht anders benehmen. --Musch Richter bei mir. Er ist um seine Mutter besorgt, wo sie hin soll. -- Wieland Herzfelde frühstückte mit mir. Er nimmt an der Kaiserfrage keinen Anteil, weil Bleiben oder Gehen Nichts ändern werde. Nur sei das Schauspiel unwürdig. Er, Herzfelde, sei gegen jede Macht, die sich über den Bereich der ihr freiwillig Zustimmenden hinaus auszubreiten suche. Daher auch ebenso gegen Trotzki, wie gegen Hindenburg oder gegen Wilsons Grundsätze und das sog. „Selbstbestimmungsrecht". Warum sollten Minoritäten vergewaltigt werden? Er erkenne die Nation nur insoweit an, als sie jedem die Pflicht auferlege, gegen den Machtblock anzukämpfen, dem er zufällig angehöre. Literarisch: man solle nur schreiben, was man ausserstande sei, in Leben umzusetzen. Das Dichten sei ein „pis-aller“; viel wichtiger, seine Phantasie am Leben auszulassen, die Wirklichkeit umzuformen. Nur was nicht zu verwirklichen sei, solle man allenfalls schreiben. Ich sagte, mir graute vor der Amerikanisierung, die Gesinnung sei immer in Deutschland freier gewesen als in Amerika, Frankreich, England. In Deutschland könne Jeder denken, was ihm beliebe, er werde deshalb nicht belästigt oder boykottiert wie in Amerika. Herzfelde meinte: aber kein Volk setze so wenig seine Gesinnungen in Taten um wie das deutsche. Vielleicht ist die Gesinnung in Deutschland so frei, weil man aus Erfahrung weiss, wie wenig gefährlich sie ist. -- Herzfeldes Standpunkt inbezug auf Gewalt und Freiwilligkeit offensichtlich etwas kindlich, da jede Handlung aus einer Reihe von freiwilligen und unfreiwilligen, inneren und äusseren Antrieben und Hemmungen entsteht; die Grenze, die er als Fundament setzt, daher in keinem einzigen Falle klar zu ziehen ist. Ganz spontane und ganz erzwungene Handlungen sind so selten, dass man sie nicht zum Ausgangspunkt der Gesellschaftskritik machen kann. - Nachmittags Unter den Linden Alles ruhig; nur die übliche Menge von Sonntags Spaziergängern. Von den angesagten Umzügen war Nichts zu sehen. Abends gehen aber Gerüchte, „dass morgen die Revolution anfängt." Grosse Demonstrationen vor dem Reichstag seien geplant. Man werde einige hochstehende Leute herunterholen. Die Munitionsfabrik in Spandau sei von den Arbeitern angesteckt und brenne. Die Nervosität und Erwartung, dass Etwas Ungewöhnliches geschehen werde, ist in allen Kreisen gross. - Der einzige Trost ist, dass was in dieser furchtbaren Katastrophe zugrundegeht, das ist, was sich seit dreissig Jahren Allem Neuen und Keimenden in Deutschland entgegengestemmt hat; also neues, junges Leben da ist, das schon vor dem Kriege kräftig wuchs, und jetzt als neues Deutschland reifen kann. Vielleicht ist nur die Hülle gefallen, wenn nicht tötliche Bedingungen uns gestellt werden, oder die innere Umwälzung auch die neuen Keime mit vernichtet.

Kaiser Wilhelm II

Quelle:

Riederer, Günter, Hilse, Christoph (Hrsg.), Harry Graf Kessler. Das Tagebuch Sechster Band 1916-1918, Stuttgart 2004, S. 612 f.

 

Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_II._(Deutsches_Reich)#/media/File:Kaiser_Wilhelm_II_of_Germany_-_1902.jpg

Glossar anzeigen
Ein Projekt des Weimarer Republik e.V. mit freundlicher Unterstützung

Glossar

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis der verwendeten Literatur:

ADGBAllgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund
AEGAllgemeine Elektricitäts-Gesellschaft
AfA-BundGeneral Free Federation of Employees
AVUSAutomobil-Verkehrs- und Übungsstraße
BMWBayrische Motorenwerke
BRTBruttoregistertonne
BVPBayerische Volkspartei
CenterZentrumspartei
DAPDeutsche Arbeiterpartei
DDPDeutsche Demokratische Partei
DNTDeutsches Nationaltheater
DNVPDeutsch-Nationale Volkspartei
DVPDeutsche Volkspartei
KominternCommunist International
KPDKommunistische Partei Deutschlands
KVPKonservative Volkspartei
MSPDMehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands
NSNationalsozialismus
NSDAPNationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei; Nazipartei
NVNationalversammlung
O.C.Organization Consul
OHLOberste Heeresleitung
RMReichsmark
SASturmabteilung; Brownshirts
SPDSozialdemokratische Partei Deutschlands
SSSchutzstaffel
StGBPenal Code
UfAUniversum Film Aktiengesellschaft
USPDUnabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands
VKPDVereinigte Kommunistische Partei Deutschlands
ZentrumDeutsche Zentrumspartei
[AB]August Baudert: Sachsen-Weimars Ende. Historische Tatsachen aus sturmbewegter Zeit, Weimar 1923.
[AS]Axel Schildt: Die Republik von Weimar. Deutschland zwischen Kaiserreich und „Drittem Reich“ (1918-1933), hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2009.
[BauerBauer, Kurt, Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall, u.a. Wien 2008.
[BihlBihl, Wolfdieter, Der Erste Weltkrieg 1914 - 1918. Chronik - Daten - Fakten, Wien 2010.
[BüttnerBüttner, Ursula, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933, Stuttgart 2008.
[DNV]Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, hrsg. v. Ed.[uard] Heilfron, Bd. 1 bis 6, Berlin [1919].
[Ebert/Wienecke-JanzEbert, Johannes/Wienecke-Janz, Detlef, Die Chronik. Geschichte des 20. Jahrhunderts bis heute, Gütersloh/München 2006.
[EK]Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik, 3. überarb. u. erw. Aufl., München 1993.
[EtzoldEtzold, Hans-Rüdiger, Der Käfer II. Die Käfer-Entwicklung von 1934 bis 1982 vom Urmodell zum Weltmeister, Stuttgart 1989.
[GG]Gitta Günther: Weimar-Chronik. Stadtgeschichte in Daten. Dritte Folge: März 1850 bis April 1945 (Weimarer Schriften, Heft 33), Weimar 1987.
[GrüttnerGrüttner, Michael, Das Dritte Reich 1933-1945 (= Bd. 19, Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte), Stuttgart 2014.
[HildebrandHildebrand, Klaus, Das Dritte Reich, 7. Aufl., München 2010.
[Kessler Tgbb]Harry Graf Kessler. Tagebücher 1918-1937, hrsg. von Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M und Leipzig 1996.
[KittelKittel, Erich, Novembersturz 1918. Bemerkungen zu einer vergleichenden Revolutionsgeschichte der deutschen Länder, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 104 (1968), S. 42-108.
[KolbKolb, Eberhard, Die Weimarer Republik, 7. durchges. und erw. Aufl., München 2010.
[NiedhartNiedhart, Gottfried, Die Außenpolitik der Weimarer Republik, 2. aktualisierte Aufl., München 2010.
[O/S]Manfred Overesch/ Friedrich Wilhelm Saal: Die Weimarer Republik. Eine Tageschronik der Politik, Wirtschaft, Kultur, Düsseldorf 1992.
[Overesch/SaalOveresch, Manfred/Saal, Friedrich Wilhelm, Die Weimarer Republik, Eine Tageschronik der Politik, Wissenschaft Kultur, Augsburg 1992.
[PeukertPeukert, Detlef, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987.
[PK]Paul Kaiser: Die Nationalversammlung 1919 und die Stadt Weimar (Weimarer Schriften, Heft 16), Weimar 1969.
[PM]Paul Messner: Das Deutsche Nationaltheater Weimar. Ein Abriß seiner Geschichte. Von den Anfängen bis Februar 1945 (Weimarer Schriften, Heft 17), Weimar 1985.
[ThHB]Thüringen-Handbuch. Territorium, Verfassung, Parlament, Regierung und Verwaltung in Thüringen 1920 bis 1995, hrsg. von Bernhard Post und Volker Wahl, Redaktion Dieter Marek (Veröffentlichungen aus Thüringischen Staatsarchiven, Bd. 1), Weimar 1999.
[TofahrnTofahrn, Klaus W., Chronologie des Dritten Reiches. Ereignisse, Personen, Begriffe, Darmstadt 2003.
[UB]Ursula Büttner: Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistungen und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.
[VU]Volker Ullrich: Die Revolution von 1918/19, München 2009.
[WinklerWinkler, Heinrich-August, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der Ersten deutschen Demokratie, München 1993.
[WirschingWirsching, Andreas, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft, 2. erw. Aufl., München 2010.

(zusammengestellt von Dr. Jens Riederer und Christine Rost, bearbeitet von Stephan Zänker)