Hugo Preuß: "Wir haben die Wahl: Demokratie oder Bolschewismus!"
Mit dem Titel "Volksstaat oder verkehrter Obrigkeitsstaat?" ist dies einer der berühmtesten Artikel des Revolutionswinters, und sicherlich einer der folgenreichsten. Es dürfte fast einmalig sein, dass ein scharf regierungskritischer Artikel mitten in der Revolution die Konsequenz hat – dass der Autor von der Revolutionsregierung, dem Rat der Volksbeauftragten, zum Minister ernannt wird! Genau das passiert hier.
Einen Tag später, am 15.11., wird Preuß von Ebert ins Innenministerium berufen und mit der Vorbereitung der Verfassung beauftragt. Preuß war einer der wenigen Staatsrechtler mit eindeutig demokratischer Ausrichtung; als Stadtverordneter und Stadtrat in Berlin hatte er eng mit der SPD zusammengearbeitet. Als Mitbegründer der DDP gehörte Preuß bis zu seinem frühen Tod 1925 dem Preußischen Landtag an.
Volltext:
Wenige Tage sind seit dem Sturz des alten Obrigkeitssystems in Deutschland erst verstrichen; dieser Umschwung hat sich bisher jedenfalls mit einer Ordnung vollzogen, die für eine Revolution von so ungeheuerlicher Bedeutung erstaunlich und wunderbar ist; und doch kann man schon immer zahlreichere Stimmen hören, aus denen etwas wie Heimweh nach dem alten Obrigkeitsstaat spricht; und zwar auch von Soldaten, die bisher keineswegs seine Anhänger waren. Das ist psychologisch ebenso begreiflich, wie es politisch unsinnig ist. Denn die Überalterung des Obrigkeitsstaats war die Ursache seines Bankrotts und des gegenwärtigen Umsturzes; sie ist aber auch die Ursache, daß an seine Stelle noch keineswegs der Volksstaat getreten ist, sondern ein umgedrehtes Obrigkeitssystem. Im alten Obrigkeitsstaat hatte der Bürger sehr wenig, im gegenwärtigen hat er absolut gar nichts zu sagen; mehr als je vorher ist im Augenblick das Volk in seiner Gesamtheit lediglich Objekt einer Regierung, die ihm durch unerforschliche Ratschläge gesetzt wird, nur daß sich diese nicht auf ein Gottesgnadentum berufen, sondern auf eine genau ebenso unfaßliche Volksgnade. Der Rechtstitel ist in einem wie im anderen Falle die Macht, oder vielmehr der Glaube an eine dahinterstehende überlegene Gewalt. Kurz, es ist ganz und gar der umgedrehte Obrigkeitsstaat.
Gewiß kann man dem „Bürgertum" in dem leider üblich gewordenen engen Sinne dieses Wortes entgegenhalten, daß es kein Recht habe, sich über seine Ausschließung zu beklagen, weil seine politischen Unterlassungssünden, seine Schlappheit und Servilität ein gerüttelt Maß der Schuld tragen an der Überalterung jenes Obrigkeitssystems und folglich an dem gegenwärtigen Zusammenbruch. Auch ist es unzweifelhaft, daß das Bürgertum und die alten politischen Parteien einen Umschwung, wie den eben erlebten, aus eigener Kraft niemals zustande gebracht hätten; und es ist daher begreiflich, wenn die Organisatoren der Revolution deren Früchte allein zu genießen wünschen. Aber diesem Wunsche steht die Tatsache entgegen, daß er nicht nur die Entwicklung politischer Freiheit, unter deren Losung doch der Umschwung vollzogen wurde, unmöglich macht, sondern auch das ganze Schicksal unseres schon so hart heimgesuchten deutschen Volkes dem Verderben preisgeben muß.
Ja, die sogenannte Politik der alten Parteien und ihre Führung war elend, genauso elend, wie die Politik und die Führung des alten Obrigkeitsstaates, mit dem sie in Wechselwirkung stand. Aber Schuld her, Schuld hin! Wer jene Überzeugung nicht erst seit heute und gestern vertritt, wer lange Jahre hindurch diesen Standpunkt ungebeugt den alten Mächten gegenüber, wenn auch vergeblich, zur Geltung zu bringen versucht hat, der wird heute nicht vor den neuen Machthabern schweigen, sondern ihnen zurufen: Ihr könnt dem geschlagenen deutschen Volke Erhebung, dem zerrütteten deutschen Staate neues Leben unmöglich unter-Entrechtung seines Bürgertums, unmöglich im Zeichen des Klassenkampfes bringen. Die Absichten der gegenwärtigen Machthaber mögen die lautersten und reinsten sein; sie können doch der zwingenden Logik nicht entgehen, daß der Versuch, den deutschen Staat unter Zurückdrängung seines Bürgertums zu konstituieren, in kurzer Frist unabwendbar zum bolschewistischen Terror fuhren muß. Der gegenwärtige Zustand, daß zahlreiche bürgerliche Elemente die öffentlichen Geschäfte führen unter der Diktatur einer ihnen prinzipiell fremden Obrigkeit, mag im Augenblick als Notbehelf unvermeidlich sein; aber er ist nur auf kürzeste Frist haltbar, wird sehr bald von der einen oder der anderen Seite als unerträglich empfunden werden. Wenn, er bis dahin seine Lösung nicht in einer auf der Gleichberechtigung aller Volksgenossen ruhenden politisch-demokratischen Organisation gefunden hat, so gibt es keinen anderen Ausweg als rechtlose Gewalt und mit ihr völlige Zerrüttung des wirtschaftlichen Lebens. Auf solchen Wegen mag seine Ziele verfolgen, wer unter Zerstörung aller nationalen Gliederungen die allgemeine Zwangsherrschaft des internationalen Proletariats herstellen zu können wähnt; niemals jedoch der, der aus dem großen Zusammenbruch den demokratischen deutschen Volksstaat retten will, dem sich auch die noch außenstehenden Glieder freiwillig und freudig anschließen sollen. Hier scheiden sich die Wege sofort und unbedingt. Hier handelt es sich um die Frage „östlicher oder westlicher Orientierung" in einem neuen verhängnisschweren Sinne. Wie haben uns die Reaktionäre die Entwicklung in der Art der „westlichen Demokratien" zu verekeln gesucht; und nicht nur Liberale, auch Sozialdemokraten sind ihnen auf den Leim gegangen. Wollen wir jetzt statt dessen den Bolschewismus nachahmen, die negative Platte des russischen Zarismus? In epigrammatischer Zuspitzung, doch im Kerne treffend, schreibt eben jetzt Albert Thomas in der Humanité:
„Entweder Wilson oder Lenin, entweder die aus der französischen Revolution hervorgegangene und von der amerikanischen Republik weiter entwickelte Demokratie oder die brutalen Formen des russischen Fanatismus. Man muß wählen."
Wenn es das unabwendbare Schicksal in allen Revolutionen wäre, daß die Gironde von jakobinischer Schreckensherrschaft überrannt wird, so ist es deren Schicksal, von einem gesellschaftsrettenden Säbelregiment überwunden zu werden. Daß es nicht notwendig so sein muß, zeigt vor allem die englische und die amerikanische Entwicklung. Für den Lauf, den die Dinge bei uns nehmen werden, wird Haltung und Stimmung des Bürgertums sicherlich von schwerwiegender Bedeutung sein. Dem entsetzlichen Wechsel von rotem und weißem Terror zu entgehen, haben wir nur dann Aussicht, wenn sich eine starke und energische Strömung innerhalb des deutschen Bürgertums entschlossen auf den Boden der vollzogenen Tatsachen stellt, aber nicht willenlos ihr Haupt unter die neue Obrigkeit beugt, wie sie es so lange zum Schaden des deutschen Volkes unter die alte Obrigkeit gebeugt hat; und wenn ihre Mitarbeit in voller und verantwortlicher Gleichberechtigung nicht zurückgewiesen wird. Nicht zum Vortrupp reaktionärer Bestrebungen darf und will sich das Bürgertum hergeben; es will Hand in Hand gehen mit den neuen Mächten, aber nicht als Handlanger, sondern als gleichberechtigter Genosse.
Nicht Klassen und Gruppen, nicht Parteien und Stände in gegensätzlicher Isolierung, sondern nur das gesamte deutsche Volk, vertreten durch die aus völlig demokratischen Wahlen hervorgehende deutsche Nationalversammlung, kann den deutschen Volksstaat schaffen. Sie muß ihn baldigst schaffen, wenn nicht unsagbares Unheil unser armes Volk vollends verelenden soll. Gewiß muß eine moderne Demokratie vom Geiste eines kräftigen sozialen Fortschritts erfüllt sein; aber ihre politische Grundlage kann niemals der soziale Klassenkampf, die Unterdrückung einer sozialen Schicht durch die andere bilden, sondern nur die Einheit und Gleichheit aller Volksgenossen. Im Rahmen der zu schaffenden demokratischen Verfassung sind die unausbleiblichen sozialpolitischen Kämpfe der Zukunft friedlich auszutragen. Die Stellung zu der konstituierenden Nationalversammlung des deutschen Volksstaates ist zugleich die Stellung zu der Frage: Demokratie oder Bolschewismus.
Quelle:
Berliner Tageblatt, Nr. 583 (14.11.1918) M.
Bild:
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