Matrosenaufstand in Kiel eskaliert - MSPD mahnt zur Besonnenheit
Nach Meldungen von gewaltsamen Ausschreitungen in Kiel erscheint im Vorwärts ein Aufruf des Parteivorstandes der MSPD. Dieser will vermeiden, dass durch gesellschaftliche Unruhen die politischen Kämpfe auf den Straßen ausgetragen werden und antwortet direkt auf die Aufforderungen der revolutionären Kräfte im Reich. Tags darauf formuliert der Kieler Soldatenrat die "14 Kieler Punkte", ein Gründungsdokument der bald reichsweiten Rätebewegung.
Volltext:
Durch unterschriftslose Flugblätter und durch Agitation von Mund zu Mund ist an
Euch die Aufforderung ergangen, in den nächsten Tagen die Betriebe zu verlassen und auf die Straße zu gehen.
Wir raten euch dringend, dieser Aufforderung nicht zu folgen.
Wie ihr alle wißt, befindet sich die sozialdemokratische Partei im Zuge einer sehr wichtigen Aktion. Sie hat einige Genossen in die Regierung entsandt, damit diese
Schleunigst Frieden
schließe und im Innern alle bürgerlichen Freiheiten herstelle, deren die Arbeiterklasse zu ihrer weiteren Entwicklung bedarf.
Seit dem Eintritt unserer Genossen in die Regierung hat diese
an die Gegner ein Angebot gerichtet, das in kürzester Zeit zu Waffenstillstand und Frieden führen muß;
Das gleiche Wahlrecht in Preußen durchgesetzt;
Dem Reichstag die Stellung der eigentlichen Zentralgewalt im Reiche verschafft und das persönliche Regiment beseitigt;
Die Unterstellung der Militärgewalt unter die Zivilgewalt durchgeführt und damit den Militarismus des stärksten Rückhalts beraubt;
Die Preß- und Versammlungsfreiheit erweitert;
Liebknecht und viele andere aus dem Gefängnis befreit.
Dies alles genügt uns nicht. Wir arbeiten weiter, um kriegshetzerische Strömungen zu bekämpfen und die Demokratisierung Deutschlands bis aufs Letzte durchzuführen.
Wie Ihr alle aus den Zeitungen wißt, hat Genosse Scheidemann im Einvernehmen mit der Partei dem Reichskanzler empfohlen, er möge
Dem Kaiser raten, zurückzutreten.
Ueber diese Frage schweben in diesem Augenblick noch wichtige Verhandlungen.
Arbeiter, Parteigenossen!
Wir fordern Euch auf, diese Verhandlungen nicht durch unbesonnenes Dazwischentreten zu durchkreuzen. Wir stehen vor den schwersten Entscheidungen, jeden Tag können wir in die Lage kommen, Euch auffordern zu müssen, daß Ihr Euer Wort in die Wagschale der Entscheidung werfen mögt. Jetzt gilt es aber, ruhig Blut und Disziplin zu wahren und sich von keinerlei Verwirrungsparolen einfangen zu lassen.
Je geschlossener Ihr unsere Aktion unterstützt, desto früher werden alle
militärischen Einziehungen
Und sonstigen Maßnahmen, die Euch beunruhigen, wieder rückgängig gemacht werden, desto schwerer werden wir rasch zu einem dauernden Frieden gelangen, desto ohnmächtiger werden alle Versuche der Reaktion bleiben, sich wieder in den Sattel zu setzen.
Aus unbesonnenen Streichen kann einzelnen von Euch und der Gesamtheit nur namenloses Unglück erwachsen. Aktionen, die Erfolg versprechen, müssen von der Gesamtheit der Arbeiterschaft getragen sein. Für solche ist aber jetzt der Augenblick nicht da. Folgt darum keiner Parole, die von einer unverantwortlichen Minderheit ausgegeben wird!
Der Vorstand
der sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Quelle:
Der Vorwärts vom 04. November 1918, 35:304 (1918), S. 1.
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kieler_Matrosenaufstand#/media/File:14_Kieler_Punkte.jpg