Revolution erreicht Berlin: Ebert bittet um "Ruhe und Ordnung"
Von den Rändern des Reiches schwappte die Revolution am 9. November auch in die Reichshauptstadt Berlin. Während der Vorwärts an diesem Samstag mit dem Drucken von Extra-Ausgaben kaum hinterherkam, lichtete sich die Lage bereits einen Tag später. Während am 9. Nov. noch unklar war, wer sich mit welchem Ziel an die Reichsspitze stellen würde (Armeeführung, Soldatenräte, Arbeiterparteien oder eine All-Parteien-Regierung), tritt am Sonntag Friedrich Ebert als neuer "Reichskanzler" an die Öffentlichkeit. Dem Titelblatt des Vorwärts ist es anzumerken, wie viele Interessen Ebert gleichzeitig zu berücksichtigen hat. Adressiert werden in den aufgeführten Texten die Gesamtheit des Volkes, die Beamten, die Soldaten und die Arbeiter. Dementsprechend variiert die Selbstbeschreibung der Regierung und die Argumentation gegenüber den jeweilig Adressierten.
Volltext:
An die deutschen Bürger!
Berlin, 9. November. Der neue Reichskanzler Ebert erläßt folgende Kundgebung an die deutschen Bürger:
Mitbürger!
Der bisherige Reichskanzler Prinz Max von Baden hat mir unter Zustimmung der sämtlichen Staatssekretäre die Wahrnehmung der Geschäfte des Reichskanzlers übertragen. Ich bin im Begriff, die neue Regierung im Einvernehmen mit den Parteien zu bilden und werde daher über das Ergebnis der Oeffentlichkeit in Kürze berichten.
Die neue Regierung wird eine Volksregierung sein. Ihr Bestreben wird sein müssen, dem deutschen Volke den Frieden schnellstens zu bringen und die Freiheit, die es errungen hat, zu befestigen.
Mitbürger! Ich bitte Euch alle um Eure Unterstützung bei der schweren Arbeit, die unser harrt, Ihr wißt, wie schwer der Krieg die Ernährung des Volkes, die erste Voraussetzung des politischen Lebens, bedroht.
Die politische Umwälzung darf die Ernährung der Bevölkerung nicht stören.
Es muß die erste Pflicht aller in Stadt und Land bleiben, die Produktion von Nahrungsmitteln und ihre Zufuhr in die Städte nicht zu hindern, sondern zu fördern.
Nahrungsmittelnot bedeutet Plünderungen und Raub, mit Elend für alle! Die Aermsten würden am schwersten leiden, die Industriearbeiter am bittersten getroffen werden.
Wer sich an Nahrungsmitteln oder sonstigen Bedarfsgegenständen oder an den für ihre Verteilung benötigten Verkehrsmitteln vergreift, versündigt sich aufs schwerste an der Gesamtheit.
Mitbürger! Ich bitte Euch alle dringend: Verlaßt die Straßen! Sorgt für Ruhe und Ordnung!
Der Reichskanzler. Ebert.
An alle Behörden und Beamten!
Der Reichskanzler Ebert veröffentlicht nachfolgenden Aufruf:
Die neue Regierung hat die Führung der Geschäfte übernommen, um das deutsche Volk vor Bürgerkrieg und Hungersnot zu bewahren und seine berechtigten Forderungen auf Selbstbestimmung durchzusetzen. Diese Aufgabe kann sie nur erfüllen, wenn alle Behörden und Beamten in Stadt und Land ihre hilfreiche Hand leisten.
Ich weiß, daß es vielen schwer werden wird, mit den neuen Männern zu arbeiten, die das Reich zu leiten unternommen haben, aber ich appelliere an ihre Liebe zu unserem Volke. Ein Versagen der Organisation in dieser schweren Stunde würde Deutschland der Anarchie und dem schrecklichsten Elend ausliefern.
Helft also mit mir dem Vaterlande durch furchtlose und verdrossene Weiterarbeit, ein jeder auf seinem Posten, bis die Stunde der Ablösung gekommen ist.
Berlin, den 9. November 1918 Der Reichskanzler. gez. Ebert.
Soldaten! Es ist der Wunsch der in Bildung begriffenen sozialistischen Regierung, daß Ihr heute wieder in Eure Kasernen zurückkehrt, wo Ihr durch Soldatenräte Eure Angelegenheiten selbst verwalten könnt. Nur dort könnt Ihr Eure Verpflegung sichern.
Kein Bruderkampf!
Einen Sieg hat das deutsche Volk und insbesondere auch das Berliner Proletariat errungen, der ohne Beispiel in der ganzen Geschichte dasteht. Selbst die Ereignisse von 1848 verblassen gemessen an dem gewaltigen Umsturz, der sich am 9. November 1918 vollzogen hat. [...]
Heute gilt es nicht, sich hemmungslosen Jubel hinzugeben, sondern es heißt, für die Zukunft zu sorgen und zu schaffen. Aufgabe über Aufgabe drängt sich an die Arbeiter- und Soldatenregierung heran. Die neue Volksregierung soll nach außen den Frieden schließen, nach innen die Volksernährung organisieren, die Demobilisierung von 10 Millionen Soldaten in geordnete Bahnen bringen, das Wirtschaftsleben organisieren und unendlich andere Dinge mehr, von denen jedes einzelne von höchster Bedeutung ist. [...]
Dazu aber ist eins unumgängliche Voraussetzung: Daß die Arbeiterklasse einig und geschlossen bleibt. Ohne das geht es nicht! Wenn Gruppe gegen Gruppe, Sekte gegen Sekte arbeitet, dann entsteht das russische Chaos, der allgemeine Niedergang, das Elend statt des Glückes. [...]
In Bayern ist diese Einigung [der Arbeiterparteien, Anm.] für den ganzen Staat vollzogen. Dort gibt es keine Parteispaltung mehr! Soll Berlin dahinter zurückstehen?!
Die Einigung muß auch hier durchgeführt werden! Sie muß! Es geht um Wohl und Zukunft der ganzen Arbeiterklasse. [...]
Die Bruderhand liegt offen - schlagt ein!
Quelle:
Vorwärts Nr. 310 / Jg. 35 vom 10.11.
In: http://fes.imageware.de/fes/web/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Novemberrevolution#/media/File:Ebert_LCCN2014709630.jpg