Volltext:
[November 1918]
Ich schlief ungestört bis zum frühen Morgen wo wir die deutsche Grenze erreichten. Von da an hatte ich den ganzen Tag über wechselnde und vielfältige Gesellschaft. Zivilisten, Soldaten verschiedener Truppenteile, Matrosen. Alle redeten natürlich von der Revolution, und aus allen Erzählungen konnte ich entnehmen, daß es nicht überall so friedlich zugegangen war wie in Leipzig und Wilna; die meisten meinten auch, daß sich die Spartakusgruppe keineswegs kampflos zufrieden geben würde. Zwei Matrosen wollten bestimmt wissen, daß es morgen in Berlin etwas gebe. Ich erzählte von meiner Absicht, dort zu übernachten, teils um meine Angehörigen aufzusuchen, teils um meine Frau nicht aus dem Schlaf zu stöbern. 'Fahren Sie lieber durch', hieß es, 'wer weiß, ob Sie morgen noch einen Zug erwischen.' So wechselte ich gleich vom Friedrichs- zum Anhalter Bahnhof hinüber, ein alter gesprächiger Dienstmann karrte mein Gepäck zur Tram in der Dorotheenstraße und zeigte mir Häuser, aus denen geschossen worden war: 'Ich in 'n Hausflur, da spritzt et von der andern Seite ooch, und Menschen von der Elektrische kriechen rein, und et war een Jedrängel. Nachher ham se drei Offiziere und enen von der Jugendwehr rausgeholt und gleich an de Mauer jestellt und in die Spree jeworfen.
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Der Krieg hatte ein Ende, ich war wirklich frei für meine Arbeit, und sie hatte ein sicheres Ziel, denn wenn ich auch an meiner Münchner Dozentur geringe Zukunftshoffnungen knüpfte, so gehörte sie mir doch wenigstens mit Bestimmtheit und konnte mir nicht abhanden kommen wie das Genter Katheder. Und die Revolution sollte mich nicht stören. Ich wollte arbeiten, nichts als arbeiten, die 'Astrée' in Sicherheitbringen, ein großes literarhistorisches Kolleg vorbereiten. Im ganzen führte ich das auch durch, aber wirklich ausschalten ließ sich die Revolution doch nicht, sie war immer da, vom Morgen bis zum Abend. Am Morgen erzählte mir der Friseur, wie viele Gewehre er, das Stück für zehn Mark, von Soldaten gekauft habe, die auf eigene Faust abrüsteten, und wie er die Waffen bequem um den doppelten Preis loswerde.
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Ein einziges Mal ging ich in eine politische Versammlung, ich wollte die Radikalsten kennenlernen. Die Spartakusleute tagten in den Coburger Hallen, einem ziemlich jämmerlichen Lokal am Brühl. Der lange, verräucherte Raum hier war, nach den Bildern an der Wand zu schließen, das Verbandszimmer eines Eisenbahnervereins gewesen; über vielen Gruppenphotografien von Lokomotivführern und Schaffnern hing ein großes Kaisergemälde, Wilhelm mit Kürassierhelm und Haby-Schnurrbart. An zwei langen Tischen saßen dicht gedrängt, rauchend und Bier trinkend, etwa 250 Leute, in der Mehrzahl Männer verschiedenen Alters, hauptsächlich wohl Arbeiter. Die Szene war so vollkommen friedlich, daß es noch immer der Stammtisch der Eisenbahner oder ein Vortrag eines Vereins der Kaninchenzüchter oder Laubengärtner hätte sein können. Und auch der sachliche Ton der Vortragenden paßte zu dieser Annahme, solange man nur auf den Klang der langsam und bedächtig geformten Sätze achtete. Um so stärker wirkte ihr Inhalt auf mich.
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Der Redner, ein etwa vierzigjähriger massiger Feldgrauer, dem Akzent nach Ostpreuße, bewies seinen stillen Hörern die Notwendigkeit des Bürgerkrieges, so wie der Lehrer in der Schule einen mathematischen Lehrsatz entwickelt. »Wir sind die Armen«, sagte er, »und die Ungebildeten. Die Revolution hat uns gar nichts geholfen, eine bürgerliche Republik ist entstanden, die Regierungssozialisten haben uns verraten, sie sind uns mindestens ebenso feindlich wie die andern Rechtsparteien. Die Presse gehört den Besitzenden und Gebildeten, unter der allgemeinen Preßfreiheit sind allein wir unfrei. Die geplante Nationalversammlung wird eine Mehrheit der Besitzenden und Gebildeten aufweisen, wir werden dort in der Minorität und genauso einflußlos sein wie jetzt in der Presse. Es gibt keine allgemeine Freiheit, die uns helfen kann, wenigstens vorläufig nicht. Wir müssen das Zustandekommen der Nationalversammlung verhindern, wir müssen die Presse ganz in unsere Hand bekommen und allein in unsere Hand, wir müssen die Diktatur des Proletariats errichten und aufrechthalten, bis aller Besitz verstaatlicht und bis die uns vorenthaltene Bildung unser ist. Das ist nur mit Gewalt zu erreichen. Und warum sollten wir nicht Gewalt anwenden? Es ist soviel Blut für die Sache des Kapitalismus geflossen, warum soll nicht auch ein bißchen für die Sache des Proletariats geblutet werden?« Das Publikum nickte, rief bravo, klatschte, alles mit Ernst, mit Überzeugtheit und ohne Überschwang. Ein zweiter Redner, diesmal ein Zivilist, gewiß ein Leipziger Handwerksmeister, begann die Ausführungen des Ostpreußen zu paraphrasieren. Ich dachte: »widerwärtige Zeitvergeudung«, und ging. Nicht die geringste Sympathie verband mich mit diesen Leuten. Ich hoffte, daß es der Regierung gelingen möchte, sie ohne Blutvergießen im Zaum zu halten. Ging es aber nicht ohne Gewalt, nun, dann war die Regierung hoffentlich stark genug, sich zu behaupten und die Wahl der Nationalversammlung durchzusetzen.
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Das, was der Spartakist als bürgerliche Freiheit verächtlich gemacht hatte, war mir der Inbegriff des politisch Guten, und jedem, auch dem proletarischen Arbeiter, mußte sie gerecht werden, und nur von der Mitte her konnte Freiheit auf ein ganzes Volk ausstrahlen. Vielleicht war die Revolution in einem ungeeigneten Augenblick eingetreten, aber den Grundsätzen der neuen Regierung stimmte ich von ganzem Herzen zu. Wenn ich einiges Verständnis für die Gegner der Republik aufbrachte, so geschah das nur der Rechtsopposition gegenüber. Wir mußten so Furchtbares von den Gegnern erdulden; vielleicht wären wir ihnen ohne die Revolution doch nicht ganz so wehrlos ausgeliefert gewesen. Ob man sie ohne den inneren Zusammenbruch nicht doch hätte vermeiden können? »In Aachen (oder in Jülich)«, notierte ich, »hat ein belgischer Kommandant bei Strafe standrechtlichen Erschießens angeordnet, daß deutsche Zivilisten die Offiziere der Besatzung ehren, indem sie den Bürgersteig verlassen und den Hut ziehen. Gewiß, im Sommer hat mir Beyerlein erzählt, daß wir’s in Rumänien geradeso gehalten haben, und heute erzählt mir Kopke: in Polen auch – aber es macht mich doch ganz elend, an diese Demütigung zu denken.« Doch wenn ich ein klein wenig mit der Rechtsopposition sympathisierte, so geschah das in der Annahme, daß von ihr der neuen Staatsform keine Gefahr drohe. Sie würde, dachte ich, den rechten Flügel der Nationalversammlung bilden, aber nicht auf Sprengung der Republik ausgehen. Aber es wurde mir nicht schwer, all diese Gedanken beiseite zu schieben und mich ganz an die vorklassische und klassische französische Literatur hinzugeben: Leipzig lag trotz aller Leitartikel und Versammlungen in tiefem Frieden, und im Merkur mischte sich in das Rascheln der Blätter das Aufklatschen der Skatkarten.