Berliner Tageblatt (BTB): "In der Hauptstadt herrscht Wohnungsnot! Und Möbelnot obendrein!"
Zwar rutschte die Einwohnerzahl der deutschen Hauptstadt kriegsbedingt wieder unter die 2 Millionen Marke, aber vor dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920 umfasste die Stadt auch nur einen Bruchteil ihrer späteren Fläche. Das Berliner Tageblatt berichtet hier über eine herrschende "Möbelnot", was weniger vertraut klingt als der heute wieder präsente Begriff "Wohnungsnot".
In einer Zeit vor der industriellen Massenanfertigung von Möbeln, etwa durch bekannte skandinavische Einrichtungshäuser, waren Möbel wertvolle Haushaltsgegenstände, die meist über mehrere Generationen hinweg benutzt wurden. Das Tageblatt klagt jedoch über die "Kriegsgewinnler", welche mit Möbeln ein Spekulationsgeschäft betrieben, das die Inflation zusätzlich anheize. Die "Möbelnot" erschwere die Einrichtung von dringend benötigten neuen Wohnungen und wird somit als legitimes Ziel staatlicher Sozialpolitik charakterisiert.
Volltext:
Möbelauktionen.
Phantasiepreise für alte Einrichtungsgegenstände.
In dieser Zeit der Möbelnot und der Knappheit an Teppichen, Fenstvorhängen, kurz an allem, was man zur Einrichtung einer Wohnung braucht, versuchen weitere Kreise der Bevölkerung auf Möbelauktionen und ähnlichen Versteigerungen privater Haushalte das Notwendige preiswert zu kaufen. Im Frieden waren diese Versteigerungen nur wenig besucht, meist nur von Händlern oder wenig bemittelten Privatpersonen. Jetzt aber drängt sich alles hinzu, und diese Versteigerung sind der Tummelplatz von Leuten geworden, die man sonst nicht bei solchen Gelegenheiten sah.
Vor wenigen Tagen wurde durch einen vereidigten Auktionator die Wohnungseinrichtung des vor längerer Zeit verstorbenen Dichters Rudolf Alexander v. Schröder, der in der Villa Tiergartenstraße 16 den ersten Stock bewohnte, versteigert. Die Wohnung Alexander v. Schröders, die mit auserlesenem Geschmack eingerichtet war, bot an dem Tage der Versteigerung ein groteskes Bild. Neben den Altmöbelhändlern drängten sich in den Räumen Kriegsgewinner, die heute Möbel und Teppiche um jeden Preis kaufen. Bei dem Mangel an guten, alten Möbeln fehlte es natürlich auch nicht an den bekannten Leuten, die jetzt alles ihnen Erreichbare aufkaufen, um es dann mit vielfachen Aufschlägen weiter zu veräußern. Infolgedessen stiegen auch die Gegenstände, die versteigert wurden, ebenso wie die Luxusgegenstände, die in dieser Zeit verauktioniert werden, auf schwindelnde Preishöhen. Mancher erinnert sich vielleicht noch der Zeiten, wo man elegante, schwereichene Möbel für wenige Hundert Mark erstehen konnte. Heute bezahlt man für einen Nickeltopf, den man im Frieden nicht einmal für fünf Mark gekauft hätte, das Zehnfache, ohne den Zweck eines solchen Topfes überhaupt zu kennen. Oft steigt ein Gegenstand, der kaum 5 Mark Wert hat - wie z.B. zwei metallene Blumentopfhalter, auf der Versteigerung der Wohnung Alexander v. Schröders - , bis auf 100 Mark. Die Preise, die geboten werden, sind vollkommen willkürlich. Ob das Stück in irgendeinem Preisverhältnis zu seinem Wert steht, danach wird gar nicht mehr gefragt. Da nun die Möbel, die heute auf den Markt kommen, meist aus derartigen Versteigerungen hervorgehen, so hat man hier eine der Wurzeln für die übermäßige Preissteigerung auf dem Möbelmarkt. Von "Gelegenheitskäufen" ist jetzt nicht mehr zu reden. Die Möbelauktionen sind nur noch Quellen, die die Preissteigerung auf dem Möbelmarkt stärken.
Maßnahmen gegen die Wohnungsnot.
Das Ruhen der Bautätigkeit und die Inanspruchnahme von über 3000 Wohnungen für Militärbehörden und Kriegswirtschaftsstellen hat auch in Charlottenburg den Wohnungsmangel verstärkt. Dieser Wohnungsmangel und die der Errichtung von Neubauten entgegenstehenden technischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten nötigen zur beschleunigten Herstellung von Notwohnungen. In erster Linie soll auf die leerstehenden Läden und sonstigen gewerblichen Räume zurückgegriffen werden. Die Hausbesitzer sollen durch Gewährung städtischer Beihilfen zur Einrichtung von Wohnungen in gewerblichen Räumen und Läden angeregt werden. Die durchschnittlichen Einrichtungskosten sind etwa 500 Mark für jeden Raum. Die städtischen Beihilfen sollen als einmalige Zuschüsse zu den Einrichtungskosten gewährt werden, und zwar in der Regel in Höhe der halben Einrichtungskosten ein Höchstbetrag von 500 Mark für jeden Wohnraum. Auch andere geeignete Räume, etwa in Dach- und Kellergeschossen, die nicht an sich bewohnbar sind, sollen durch derartige Beihilfen zu Wohnungen eingerichtet werden.
Quelle:
Berliner Tageblatt Nr. 514 vom 8.10.1918 (Morgen)
In: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/kalender/auswahl/date/1918-10-08/27646518/
Bild:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Mosse#/media/File:Rudolf_Mosse.jpg