Die neue Regierung in der Presseschau - Der Vorwärts vertritt die Hufeisentheorie
Das Hauptorgan der MSPD - der Vorwärts - bringt neben seiner eigenen, positiven Reaktion auf die Bildung einer parlamentarischen Reichsregierung mit Beteiligung von Sozialdemokraten auch eine Auslese an Pressestimmen der Gegner. Auffällig sei - so das Blatt - wie ähnlich sich Konservative, Rechtsradikale und Unabhängige in ihrer gemeinsamen Ablehnung der Regierung von Badens seien. Reine Missgunst über den Erfolg der Mehrheitsparteien, oder steckt mehr dahinter?
Volltext:
Gassentöne in Aristokratenblättern.
Beutepolitik. – Die neue Regierung im Dienste der Entente!
Die Bildung einer Reichsregierung ohne jeden konservativen Einschlag und das Misslingen ihres auf eine „Koalitionsregierung“ spekulierenden Plänchens hat die konservative Presse in einen Wuttaumel versetzt, der nahezu an ihrem Verstande zweifeln läßt. Nach der Darstellung der „Deutschen Tageszeitung“ haben es die Mehrheitsparteien lediglich auf die Ministergehälter abgesehen. Oder läßt es eine andere Deutung zu, wenn man folgende Zeilen liest:
Ob man nicht doch vielleicht noch eine gewisse Kontingentierung des Appetits wird vornehmen müssen? Der Charakter „großzügiger“ Beutepolitik springt hier doch gar zu deutlich in die Augen. Bei Ministergehältern pflegten die Radikalen sonst nicht gerade freigebig zu sein; jetzt, wo sie selber an die Krippe kommen, kann ihnen diese offenbar gar nicht groß genug sein, und jede Rücksicht auf den Steuerzahler, der früher das A und O ihrer Politik war, ist vergessen. Einzelne Punkte dieser Beuteliste seien wenigstens kurz besprochen.
Nach Kenntnisnahme dieser Zeilen nehmen wir reuig zurück, was wir jüngst gegen Adolf Hoffmann zur Kennzeichnung seiner unsauberen Angriffe auf den sozialdemokratischen Reichstagskandidaten für Berlin I, Hugo Heimann, geschrieben haben. Das Blatt des Grafen [Ernst] Reventlow hat uns belehrt, daß es ein noch tieferes Niveau der politischen Kampfesweise gibt.
Kennzeichnend für die Geistesverfassung gewisser Reaktionäre ist auch ein Artikel der „Berliner Neuesten Nachrichten“, der unter der Ueberschrift „Das Kabinett Scheidemann“ folgendermaßen beginnt:
So ist es denn geschehen, was nach den Ereignissen der letzten Tage erwartet werden mußte: die Kaiserstandarte wird niedergeholt und die rote Fahne der Sozialdemokratie wird aufgezogen, die rote Fahne mit einem schmalen rötlichen Streifen des Freisinns und einem breiten schwarzen Streifen des Zentrums. Scheidemann ist am ersten Ziel seiner Wünsche. … Der 2. Oktober, an dem die neue Regierung, wie man nach den Angaben in dem Organ dieser neuen Regierung, dem „Vorwärts“ annehmen muß, grundsätzlich beschlossen worden ist, bedeutet tatsächlich das Ende der tatsächlichen Macht des Kaisertums. Die Sozialdemokratie wird mit zwei Staatssekretären, einem preußischen Minister und vier Unterstaatssekretären in der Regierung vertreten sein und diese neuen Exzellenzen sind sich darüber durchaus im klaren, wie [Chefredakteur Friedrich] Stampfer im „Vorwärts“ verrät, daß nur für das Vaterland besonders unglückliche Ereignisse und Umstände „höchst unerfreulicher Natur“ ihre Partei zur Regierung kommen ließ, so daß sie schon in diesem Augenblick davon überzeugt sein wird, daß das „Ziel einer deutschen Demokratie in kurzer Zeit auf dem Wege der friedlichen Umwälzung erreicht“ sein wird. Wir fürchten, daß diese Zuversicht der Sozialdemokraten nicht unberechtigt ist.
Wir begreifen diesen Schmerz, sehen uns aber leider außerstand, ihn zu mildern. Selbst wenn die „Berl. Neuest. Nachr.“ die an die Spitze des Reiches tretenden Männer als Kräfte bezeichnen, die sich „in den Dienst der feindlichen Offensive zur Zertrümmerung unserer Heimatfront“ stellen, so erregt dieser Wutausbruch bei uns keinen Zorn, sondern nur das Mitgefühl, das der modern denkende Mensch selbst gefährlichen Geisteskranken schuldig ist.
Dasselbe gilt von folgenden Ausführungen der „Deutschen Zeitung“:
England treibt Millionen Krieger aus aller Herren Länder gegen die Westfront, um die belgische Küste zum Brückenkopf gegen Deutschland zu machen, England kämpft an der Seite der Tschechoslowaken in Rußland, um ganz Nordeuropa sich untertan zu machen. Pläne von so gigantischer Größe, wie sie unsere spießerliche Reichstagsmehrheit, die heute winselnd und flehend nach einem Manne Umschau hält, der in England gefallen soll, - ausgerechnet in England.
Der „Deutschen Zeitung“ kann man wenigstens nicht nachsagen, daß sie über das Mißlingen des konservativen Planes einer Koalitionsregierung enttäuscht sei. Denn sie bekennt sich als sein Gegner, indem sie zu der konservativen Entschließung schreibt:
Die konservative Entschließung geht zweifellos von der Erwägung aus, daß der Ernst der Stunde besondere Maßnahmen rechtfertige. Man kann zweifelhaft sein, ob diese Auffassung die richtige ist, und ob es nicht angebrachter gewesen wäre, mit starker Hand die von den Mehrheitsparteien betrieben Zermürbung und Zersplitterung unseres Volkes ein für allemal unmöglich zu machen.
Vielleicht verbindet sich die „Deutsche Zeitung“ mit den sieben Aufrechten in Hannover, dann sind es bereits acht, die eine Diktatur fordern.
[...]
Unabhängig-Alldeutsche Harmonie
In einem Artikel, der die Folgen des Zusammenbruchs Deutschlands schildert, hat der „Vorwärts“ jüngst begründet, warum die Sozialdemokratie stets für die nationale Verteidigung eingetreten ist. Dieser Artikel findet in der unabhängigen „Sozialistischen Auslandskorrespondenz“ folgenden Kommentar:
In welchem Lichte erscheint, wenn dem so ist, der „Verständigungsfriede“? Dann haben von der ersten Stunde an hundertmal und tausendmal diejenigen recht gehabt, die ihre Hoffnung einzig und allein auf das Schwert und den zerschmetternden Sieg des Schwertes setzten, und es ist schließlich eine unter rein militärischen Gesichtspunkten aufzuwerfende zu beantwortende Frage, ob man das parlamentarische Regierungssystem an die Stelle des bureaukratischen setzen und der Volksvertretung und ihrem ausführenden Organ Funktionen zuweisen soll, die bisher von anderen Stellen ausgeübt wurden.
Damit aber geraten die Anhänger der sogenannten Demokratisierung und auch gewisse Politiker, die das Heil von einer Regierung aus den heutigen Mehrheitsparteien erwarten, in eine recht ungünstige Situation.
Die Alldeutschen können sich schließlich darauf berufen, daß unter dem bisherigen Zustand militärisch immerhin Erkleckliches geleistet worden ist, und den Herren Ebert, Erzberger und Richthofen dürfte der Beweis einigermaßen schwer fallen, daß die Westfront fester hält, wenn die Vertreter der Mehrheitsparteien die Portefeuilles der Staatssekretäre und Minister unter sich verteilen und diejenigen sozialen und politischen Reformen durchführen, über die sich die Rechtssozialisten mit Zentrum und Nationalliberalen einigen können.
Gar nicht zu reden davon, daß, wenn der Parlamentarismus nur den Sinn haben soll, das Volk zu kräftigerem gemeinsamen Widerstand zusammenzufassen, es eine unverzeihliche Sünde wäre, die konservativen Gruppen von der Regierung auszuschließen.
Als wir das lasen, kam es uns ungeheuer bekannt vor. In der Tat, es hat- Satz für Satz – zehn- und hundertmal in der alldeutschen Presse gestanden. Es ist auffällig, wie sich auch in dieser Situation wieder die Harmonie zwischen den Alldeutschen und den Unabhängigen herausbildet. Ganz isoliert sind die Konservativen noch nicht.
Quelle:
Vorwärts Nr. 273 / Jg. 35 vom 4.10.1918
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