Fränkische Tagespost: "Der Kaiser ist erledigt; er weiß es doch selbst!"
Das MSPD-Blatt - Fränkische Tagespost - wagt sich gegenüber der Zensur aus der Deckung und fordert unumwunden die Abdankung des Kaisers. Wilhelm II. müsse doch selbst jeden Tag erleben, wie lächerlich sein Anspruch "Gottes Instrument" zu sein, tatsächlich ist. Nachdem er noch vor wenigen Monaten die Neuordnung Osteuropas unter monarchistischen Vorzeichen vorangetrieben habe, stehe er nun vor den Scherben seiner menschenverachtenden Politik. "Höchste Zeit selbst ein patriotisches Opfer zu leisten!", findet das Blatt.
Die Frage der Abdankung des Kaisers, wie sie nicht nur die Arbeiterparteien, sondern auch die Entente vehement fordern, wird aufgrund von Wilhelms Unnachgiebigkeit in dieser persönlichen Frage das endgültige Ende aller deutschen Monarchien nach sich ziehen. Hätte er rechtzeitig abgedankt, so darf spekuliert werden, wäre neben den weit beliebteren kleineren Bundesfürsten eventuell sogar das Herrscherhaus Hohenzollern in Form einer konstitutionellen Monarchie erhalten geblieben.
Volltext:
Immer mehr konzentriert sich im Gefühl des Volkes die ganze Verantwortlichkeit für die gegenwärtige Lage auf die Person des Kaisers. […]
In Wilhelm II. sehen wir den letzten deutschen Militärmonarchen. Er ist der Träger des größten Krieges der Welt, der damit endet, daß das Militärsystem zusammenbricht und daß sich Deutschland, auch das offizielle Deutschland, in einen Völkerbund eingliedert, der die Abrüstung zur Folge hat. Daß dieses Deutschland als Glied des Völkerbundes den Anschauungen Wilhelms II. durchaus nicht entsprechen kann, muß man begreifen. […]
Und nun wankt das System des preußischen Militarismus, noch weit mehr als in seinen Grundfesten, in seiner Spitze. Noch ist Wilhelm II. Deutscher Kaiser und König von Preußen, aber er empfindet wohl selbst, daß er nicht mehr das sein kann, als was er sich seit dem ersten Tage seines politischen Erwachens gefühlt hat: als ein von Gott eingesetztes „Instrument“; vor allem als der oberste Kriegsherr der glänzendsten und bestorganisiertesten Armee. Wilhelm II. muß sich selbst fremd erscheinen, wenn er die Staatssekretäre ernennen muß, die ihm Beschlüsse der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands nennen. Wilhelm II. muß Wilsons Voraussetzungen für den Waffenstillstand unfaßbar finden. Da die Oberste Heeresleitung und der ihm so fremde Rat von Staatssekretären diese Bestimmungen für erörterbar hält, bricht alles zusammen, was er in überschwänglichen Telegrammen an die baltischen Barone, was er in Erörterungen mit dem Hetman der Ukraine festgelegt zu haben meinte, was er über Polen bestimmt hat. Was ist Wilhelm II. sich selbst, wenn er auf dem Tempelhofer Felde die Revue über die Berliner Garnison abnehmen kann! Wilhelm II. muß sich selbst als deutschen Kaiser unmöglich erscheinen. Er scheint aber auch einem neuen Deutschland nicht als der geeignete Ausdruck der Volksgemeinschaft, die unter seinem System in der Vergangenheit und unter den Folgen diesem System schwer zu leiden hat. […]
Wir glauben, daß auch Wilhelm II. den Gegensatz seiner bisherigen Staatsauffassung und der Gestaltung des künftigen Deutschlands begreift. […]
Daß die Sozialdemokratie kein Interesse an der Erhaltung des Hohenzollerntums hat, das ist stets mit aller Klarheit zum Ausdruck gebracht worden. Diejenigen aber, die das Interesse haben, daß die Dynastie Hohenzollern weiter im Reiche und in Preußen herrsche, können wohl diese Familie in ihrer ererbten Machtvollkommenheit nur erhalten, wenn sie auf den Thron jemanden setzen, der nicht wie der Kaiser und der Kronprinz Meinungen festgelegt hat, die im Widerspruch stehen mit dem, was leider wird, und mit dem, was hoffentlich werden wird. Der Kaiser, der verlangt hat, daß 42 Millionen Deutsche ihr dahingeben, damit kein einziger Stein abgetreten werde von dem, was 1870/71 erreicht wurde [Anspielung auf eine Rede Wilhelm II. vom 16. August 1888, Anm.], der Kaiser hat stets die größten patriotischen Opfer von seinen „Untertanen“ verlangt, Nun, wo diese Untertanen zu Staatsbürgern werden, soll er selbst seine Opferbereitschaft zeigen, soll er selbst zurücktreten und so ein glänzendes Beispiel geben für das Verständnis der Zeit, wie auch dem Deutschen Reiche und Volke bessere Bedingungen des Friedens ermöglichen.
Quelle:
Fränkische Tagespost [MSPD] Nr. 238 vom 10. Okt 1918
In: Ursachen und Folgen, Bd. 2, S. 546f.
Bild:
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/ab/Wilhelm_II._1905.jpeg